„Das Volk, das in der Finsternis ging, das im Dunkel saß, hat ein helles Licht gesehen – es strahlte auf über denen, die im Schattenreich des Todes wohnten.“
Die Worte des Propheten Jesaja sind berührend – alljährlich werden sie in der Weihnachtsnacht und in den ersten Wochen des neuen Jahres in der Liturgie vorgetragen. Der Evangelist Matthäus übernimmt sie, um mit dem ersten öffentlichen Auftreten Jesu deutlich zu machen, dass ER es ist, der das Licht in die Dunkelheit dieser Welt bringt – und mit ihm, diejenigen, die ihm nachfolgen. Die Botschaft ist eindeutig: Gott ist ein menschenfreundlicher Gott – nahe gerade denen, die im Dunkeln sitzen, die missachtet und bedrängt werden, denen die Würde geraubt und oft genug das Leben genommen wird.
Gott will das nicht! Gott ist ein Gott des Lebens – und er will, dass alle Menschen in Frieden und in Freiheit leben können. Dafür sollen Christinnen und Christen sich einsetzen und kämpfen.
Der Blick zurück in die Geschichte jener Zeit, in der Nikolaus Groß lebte und wirkte, erinnert an das dunkelste Kapitel in der Geschichte unseres Landes. In ein paar Tagen sind es genau 90 Jahre her, als Adolf Hitler am 30. Januar 1933 mit seinen Nationalsozialisten die Macht ergrifft. „Machtergreifung“ – ein eigenartiger Begriff, der nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass eine breite Mehrheit in Deutschland Hitler und den Nationalsozialismus gewollt, unterstützt und bejubelt hat. Die Finsternis, die über Deutschland und die Welt kam, wurde von vielen, vielen Menschen hervorgerufen.
Wir denken heute an Nikolaus Groß – und mit ihn an seine Gefährtinnen und Gefährten im Kampf gegen den Nationalsozialismus: Bernhard Letterhaus, Otto Müller und viele andere. Dieses Gedenken schließt das Bewusstsein ein, dass Nikolaus Groß und die anderen Widerständ’ler in der Minderheit waren. “Wir lehnen den Nationalsozialismus nicht nur aus politischen und wirtschaftlichen Gründen, sondern entscheidend auch aus unserer religiösen und kulturellen Haltung entschieden und eindeutig ab!”1 Schon 1930 hatte Nikolaus Groß sich klar und eindeutig positioniert – und er blieb konsequent in seiner Haltung. Das taten damals aber viel zu Wenige.
1 Das Zitat habe ich auf der Homepage www.nikolaus-gross.de gefunden.
Ich beschäftige mich schon lange mit Lebenszeugnissen von mutigen Menschen, die damals aus christlicher Überzeugung konsequent widerstanden: Dietrich Bonhoeffer, Alfred Delp, Franz Jägerstätter in Österreich, Jochen Klepper und viele, viele andere. Mich beeindruckt ihr tiefer Glaube, ohne den sie vermutlich gar nicht in der Lage gewesen wären, das Unheil zu erkennen, das sich in Deutschland breitgemacht hatte. Die große Mehrheit in Deutschland, und auch in den christlichen Kirchen, sah nicht, oder wollte nicht sehen, was damals an Grauen geschah. Die Glaubenszeugen von damals, die zu Märtyrern des 20.
Jahrhunderts wurden, beeindrucken mich – und machen mich zugleich nachdenklich und traurig.
Vor einer Woche besuchte ich ein befreundetes, über 90 Jahre altes evangelisches Pfarrer-Ehepaar. Die Frau erzählte mir von ihrem Vater, der Pfarrer in der Bekennenden Kirche war. Sie war eine Oppositionsbewegung gegen die offizielle Evangelische Kirche, die dem Nationalsozialismus erlegen war. Und doch fühlte sich der Vater meiner alten Freundin nach dem Krieg schuldig:
„Auch wir haben zu wenig getan. Vor allem haben wir geschwiegen zu dem millionenfachen Mord an den Juden! Wir haben unsere jüdischen Geschwister im Stich gelassen!“ Dass seine Kirche – genausowenig wie unsere katholische Kirche – nach dem Krieg lange Zeit nicht in der Lage war, der eigenen Schuld ins Angesicht zu schauen, machte ihm zu schaffen.
Dietrich Bonhoeffer hatte seiner Kirche bereits in seinem letzten großen theologischen Werk 1942/43 ein bemerkenswertes Schuldbekenntnis formuliert, von dem er hoffte, sie werde es so oder ähnlich einmal selbst sprechen können.2 Bonhoeffer urteilte schonungslos: Die Kirche „war stumm, wo sie hätte schreien müssen. Sie hat den Ausgestoßenen und Verachteten die schuldige Barmherzigkeit verweigert,“ schrieb er. Deshalb müsse die Kirche bekennen,
„den Namen Jesu Christi missbraucht zu haben, indem sie sich seiner vor der Welt geschämt hat und dem Missbrauch dieses Namens zu bösen Zwecken nicht kräftig genug gewehrt hat.“ Mehr noch: Sie bekenne, „die willkürliche Anwendung brutaler Gewalt, das leibliche und seelische Leiden unzähliger Unschuldiger, Unterdrückung, Haß, Mord gesehen zu haben ohne ihre Stimme für sie zu erheben, ohne Wege gefunden zu haben, ihnen zu Hilfe zu eilen. Sie ist schuldig geworden am Leben der Schwächsten und Wehrlosesten, der Brüder Jesu Christi.“ Die Brüder - auch die Schwestern - Jesu Christi, das waren, sind und bleiben vor allem auch … die jüdischen Geschwister.
2 Die folgenden Zitate sind dem Abschnitt „Schuld, Rechtfertigung, Erneuerung“ aus Bonhoeffers Ethik entnommen. Dietrich Bonhoeffer Werke (DBW) 6, 125 ff.
Was Bonhoeffer formuliert, ist wahr und es gilt für die gesamte christliche Kirche: Obwohl Deutschland damals zu 90 Prozent aus getauften Christinnen und Christen bestand, waren Verbrechen von einem unfassbaren Ausmaß möglich. Das dürfen wir nie vergessen – und unsere Kirchen tragen hier eine große, große Schuld. Darum gibt es auch heute keinen Grund, die Kirche der Vergangenheit zu idealisieren und einer triumphalen Kirchengeschichte das Wort zu reden, die es nie gab.
Das Bewusstsein der Schuld, die unsere Kirchen tragen und mit ihnen viele Christinnen und Christen der damaligen Zeit, führt zugleich zu einer Anfrage an Sie und mich: Wozu sind wir heute bereit, wenn Unrecht geschieht, wenn die Würde von Menschen missachtet und mit Füßen getreten wird? Haben wir heute das richtige Gespür, um zu erkennen, wo unsere Worte und Taten gefragt sind, um Menschen in Not beizustehen, um politisch gefährlichen Entwicklungen entgegenzutreten? Durchschauen wir heute die Rechtspopulisten, Rechtsextremisten, Autokraten, Diktatoren, die in vielen Ländern Menschen verführen und sich dabei gerne ein christliches Gewand umlegen? Es ist erschreckend, wie sehr in manchen katholischen Kreisen ausgerechnet den Trumps, Bolsonaros und Orbans dieser Welt Beifall geklatscht wird; wie sehr ein antidemokratischer Nationalismus religiös aufgeladen wird, welch eine Skepsis und zuweilen auch Verachtung der freiheitlichen Demokratie gegenüber verbreitet wird.
Was zeichnet heute das Christentum aus? Was bedeutet es, in der Nachfolge des Jesus von Nazareth zu leben und zu handeln? Und woran ist erkennbar, dass Kirche auch wirklich Kirche Jesu Christi ist? Dietrich Bonhoeffer machte sich darüber in den letzten Monaten seines Lebens viele Gedanken, die er in den Briefen an seinen Freund Eberhard Bethge niederschrieb.3 Bonhoeffer hielt es für notwendig, dass die Kirche nach dem Krieg ganz neu und anders zu denken und aufzubauen sei. Für diesen Neuanfang formulierte er persönliche Fragen, die heute aktueller denn je sind:
Woran glauben wir wirklich – und zwar so, dass wir mit dem Leben daran hängen? Wer ist Jesus Christus für uns – und zwar heute, in dieser Zeit, in der wir leben? Das waren zwei zentrale Fragen, die sich in Bonhoeffers Briefen aus der Haft mehrfach finden. Können Sie, kann ich darauf persönlich antworten?
Was glaube ich und was möchte ich anderen weitergeben, von dem, was ich von Jesus Christus verstanden habe und für lebens-wichtig halte? Wofür brenne ich?
3 Die lesenswerten Briefe Bonhoeffers aus der Haft finden sich in DBW 8, „Widerstand und Ergebung“.
Und was treibt mich vom Evangelium her so sehr an, dass unsere jüngeren, uns folgenden Generationen, dass die Gesellschaft es wissen sollten, um es für sich zu entdecken?
Darüber wird in unserer Kirche wenig gesprochen – zumindest nicht persönlich. Vieles wirkt bei uns müde, abgedroschen, wenig ausstrahlend und begeisternd. Wir sind als Kirche an einem „toten Punkt“ angekommen, hatte der Münchner Kardinal Marx vor einiger Zeit gesagt. Das trifft ein verbreitetes Gefühl in unserer Kirche: Angekommen an einem toten Punkt, ausgelaugt, leer, resignativ und lethargisch. Kein Wunder, dass uns die Menschen in Scharen davon laufen.
„Wir sind trotz aller Richtigkeit und Rechtgläubigkeit an einem toten Punkt.“ So lautet der komplette Satz, auf den Kardinal Marx sich bezogen hatte. Alfred Delp4 hat ihn geschrieben. 1943 / 44 – fast zur gleichen Zeit, als Bonhoeffer auf evangelischer Seite ähnlich über seine Kirche dachte: Müde, ausgebrannt, wie tot. Damals war das furchtbar – weil die Kirche und mit ihre Gläubigen dem Horror des Nationalsozialismus nichts entgegenzusetzen hatten. Alfred Delp machte seine Kirche auch mitverantwortlich für die Dramen der damaligen Zeit.
Bemerkenswert finde ich, welchen Weg er der Kirche für die Zukunft weist: „Es wird kein Mensch an die Botschaft vom Heil und vom Heiland glauben, solange wir uns nicht blutig geschunden haben im Dienst des physisch, psychisch, sozial, wirtschaftlich, sittlich oder sonst wie kranken Menschen.“ Alfred Delp stellt die Diakonie an die erste Stelle kirchlichen Handeln: Radikaler Dienst am Menschen – das zeichnet Christsein aus.
Alfred Delp weiß zugleich, dass ein solcher Dienst nur möglich ist, wenn Christinnen und Christen mit Christus, mit Gott verbunden sind. Alles hänge davon ab, ob aus der Kirche betende Menschen hervorgehen, ob Christinnen und Christen sich mit göttlichen Kräften erfüllen lassen, ob sie gottes-erfahrene Menschen sind. Nur sie verfügen, wie Alfred Delp sehr schön formuliert, über
„die hellen Augen, die auch in den dunkelsten Stunden die Anliegen und Anrufe Gottes sehen“; nur sie haben ein bereites Herz, dem es nicht ums Rechthaben geht, sondern allein darum, „im Namen Gottes zu helfen und zu heilen.“
Das trifft sich wiederum mit Bonhoeffer, der eine ähnliche Antwort auf die Frage findet, was Christsein und was Kirche auszeichnen muss: „Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist“, hat er geschrieben. Weil Jesus Christus „der Mensch für andere“ gewesen sei, müsse auch das Christsein darin bestehen, für andere da zu sein und im je anderen Menschen Christus zu entdecken.
4 Die folgenden Zitate finden sich in dem Aufsatz Alfred Delps unter dem Titel „Das Schicksal der Kirchen“, veröffentlicht in Alfred Delp: Aufzeichnungen aus dem Gefängnis, Freiburg 2019.
Liebe Schwestern, lieber Brüder,
wir leben in herausfordernden Zeiten. Die Not in der Welt und hier bei uns wächst. Was abnimmt, ist die Bereitschaft zur Solidarität. Abgrenzung und Ausgrenzung, Aggressivität und Misstrauen nehmen zu. „Ich zuerst“ denken und sagen viele. Die Demokratie, die das Recht und die Freiheit aller Menschen schützt; die durch Aushandeln von Kompromissen Konflikte gewaltfrei löst, steht in großer Gefahr. Gerade jetzt braucht es Christinnen und Christen, braucht es Kirchen, die für Mitmenschlichkeit und Solidarität, für Vielfalt, Gerechtigkeit und Freiheit eintreten, die die Würde aller Menschen schützen – unabhängig von Nation, Kultur, Geschlecht, sexueller Orientierung, Lebensweise. Gerade jetzt braucht es Christinnen und Christen, die aus der Überzeugung leben, das das Himmelreich wirklich nahe ist, wie Jesus heute im Evangelium verkündigt.
Lassen Sie uns Gottes Nähe, Seine Menschenfreundlichkeit und Liebe in dieser aufgewühlten Zeit durch unser Reden und Tun aller Aggressivität, aller Menschenverachtung, allem Egoismus und aller Gewalt entgegensetzen – damit in den Dunkelheiten dieser Zeit Gottes Licht aufstrahlen kann.
Klaus Pfeffer, Generalvikar im Bistum Essen
Klaus Pfeffer